[tonjoo_spb]Wie mich ein Stück Wäscheleine und eine halbe Distel in eine Sinnkrise stürzten
Seit zwei Monaten geht mein Tigerkind nun in den Kindergarten. Seit zwei Wochen tue ich es ihm gleich. Umringt von einer Horde aufgescheuchter Gleichaltriger hangele ich mich an einem Stück Wäscheleine von Morgenkreis zu Morgenkreis und forme dabei unverständliche Laute. Erlebnispädagogik nennt sich das. Oder wie ich es nenne: purer Schwachsinn.
Nach über einem Jahr Tigermama sein setze ich nun meine Ausbildung fort – auf dem Weg zur staatlich zertifizierten Kinderquälerin. Doch bevor es so weit ist, werde zunächst einmal ich 18 Monate lang gequält. Im Studienseminar für Lehramtsanwärter erwarten mich hohle Phrasen und bunte Blätter. Nach sechs Jahren theorielastigem Studium sehnte ich mich natürlich nach praktischer Erfahrung. Aber doch nicht in Form von betreutem Basteln! Schere und Kleber den Grundschullehrämtern, aber doch nicht meinen Sekundarstufen! Während ich also am vierten Tag des Seminars in diversen Vorgärten nach „Naturprodukten zur Demonstration meiner Stärken und Schwächen“ suche, verspüre ich den starken Drang mir mein Fahrrad zu schnappen und zu meinem Tigerkind in die Raupengruppe zu fliehen. In der Erde wühlen könnte ich dort genauso gut. Wie ich da so mit meinem abgebrochenen Weizenhalm und einer halben Distel aus der Schrebergartenanlage schleiche, verfalle ich ins Grübeln…
Nicht wenige Mütter sehen sich bei ihrer Rückkehr aus der Elternzeit mit skeptischen Blicken oder einem Haufen zurückgelassener, da unliebsamer Arbeit der Kollegen konfrontiert. Da stellt sich bei vielen die Frage, ob diese Arbeit noch immer das ist, was sie heute (beruflich) erfüllt. Der Kindsvater kehrt nach turbulenten drei oder vier Monaten an seinen Arbeitsplatz zurück und nach ein paar Wochen hat ihn der Büroalltag wieder. Aber funktioniert das auch bei den Müttern so leicht? Die sind für gut 2 Jahre (oder im Zuge eines vorzeitigen Berufsverbots noch länger) fernab von jeglicher Arbeitswelt, widmen sich mit Haut und Haar vollen Windeln und frischen Pastinaken. Da kann es schon mal vorkommen, dass sich vor-schwangerschaftliche Vorstellungen und Lebensinhalte wandeln oder verschieben. Wollte man es früher unbedingt zum Projektmanager schaffen, sehnt man sich heute vielleicht nach weniger Verantwortung und dafür mehr Zeit mit dem Kind. Oder acht Stunden hinter einem Bildschirm erscheinen auf einmal nicht mehr sinnstiftend. Was, wenn mir die Arbeit mit Kindern gar keine Erfüllung mehr bringt, weil durch mein Tigerkind schon jegliche Nervenressourcen für cholerische Pubertätsanfälle aufgebraucht sind? Oder ich vor lauter Seminararbeiten, Stundenvorbereitungen und Lehrproben gar keine Zeit mehr für mein Kind habe? Ist mir das dieser ganze Aufwand (noch immer) wert? Vielleicht sollte ich mal die Tigeroma dazu befragen, schließlich war die während ihres Physikums mit mir schwanger. Nachtschichten auf Station mit einem Säugling zu Hause waren bestimmt auch nicht erfüllend, und trotzdem lebt sie damals wie heute für ihren Beruf.
Vielleicht liegt es aber auch einfach an dieser halben Distel. Und an der Wäscheleine. Beides Sinnbilder der Stumpfsinnigkeit meiner derzeitigen Ausbildungsphase. Aber vielleicht wird morgen ja auch alles besser. Vielleicht lässt man mich ja morgen endlich mal auf einen hormonell übersteuerten Haufen Jugendlicher los!